Genossenschaften im Chiemgau
Was ist eine Genossenschaft? Wann und wo macht eine Gründung Sinn? Was hat der Einzelne und was die Gemeinschaft davon? All diese Fragen beantwortete Frau Dr. Gisela Notz, Sozialwissenschaftlerin, Historikerin und Autorin des Buches „Genossenschaften – Geschichte, Aktualität und Renaissance“, während ihres Vortrags, den sie auf Einladung der Aschauer Bürgerliste (ABL) Anfang Februar hielt. Anschließend stand Sie für ein persönliches Interview zur Verfügung. Ob Energie- Wohnungs- oder Landwirtschafts-Genossenschaft ? im Fokus stand dabei die Gründung einer Genossenschaft im ländlichen Raum.
Frau Dr. Notz, Sie haben sich auf das Thema Genossenschaften spezialisiert. Was fasziniert Sie daran?
Ich habe mich viele Jahre mit den Themen gemeinschaftlicher Arbeits-, Wohn- und Lebensformen beschäftigt. Ich bin selbst in einer Genossenschaftssiedlung aufgewachsen, lebte 24 Jahre mit meiner Familie und den Nachbarn dort und erfuhr solidarische Hilfe unter gleichgesinnten Nachbarn. Auch in meinem weiteren Leben habe ich erfahren, dass man gemeinsam mehr erreichen kann als allein, mich später auch wissenschaftlich damit auseinandergesetzt und seit vielen Jahren dazu publiziert. Genossenschaften sind für mich – wie auch andere Projekte der solidarischen Ökonomie – ein Fenster in eine andere Welt, weil sie Eigentum vergemeinschaften und am Gemeinwohl orientiert sind.
Wer sollte das neu erscheinende Buch zu Genossenschaften lesen?
Das Buch können alle lesen, die sich mit dem Thema befassen oder zukünftig befassen wollen, weil sie nach Alternativen zum kapitalistischen, profitorientierten und Mit- und Umwelt zerstörenden Wirtschaften suchen und einen Kurswechsel in der Wohnungs- und Mietenpolitik wünschen. Das Buch bietet einen Überblick über das gesamte Thema, es ist auch für Nicht-WissenschaftlerInnen gut lesbar und als Einstieg gedacht. Deshalb gehe ich auf die Fragen ein, was eine Genossenschaft ist, was sie will, welche Gesetze dahinter stehen, wie Genossenschaften im Laufe der Geschichte entstanden sind und sich entwickelt haben sowie welche Formen es gibt und was heute möglich ist.
Blicken wir in die Gegenwart: Wer könnte in welchen Bereichen derzeit eine Genossenschaft gründen?
Gründen kann jede/r der oder die die Überzeugung gewonnen hat, dass sie gemeinsam ihre Ziele besser erreichen können als im Alleingang. Seit 2006 reichen drei natürliche und/oder juristische Personen für die Gründung aus. Der Genossenschaftsverband unterscheidet fünf Genossenschaftssektoren: Konsumgenossenschaften, Wohnungsbaugenossenschaften, gewerbliche Genossenschaften, Genossenschaftsbanken und ländliche Genossenschaften. Allen Sektoren gemeinsam ist, dass die GenossInnen als EigentümerInnen kollektiv und gleichberechtigt die wichtigsten betriebsinternen sowie produkt- und projektorientierten Entscheidungen treffen. Jeder Mensch hat eine Stimme, egal wieviel er oder sie eingezahlt hat. Die Genossenschaft ist nicht nur eine Rechtsform, sondern auch eine wirtschaftliche Selbsthilfepraxis. Wobei es in der Regel um die Erfüllung von Bedürfnissen und Interessen der Mitglieder geht und weniger um ökonomischen Profit. Genossenschaften sind die demokratischste aller Rechtsformen. Sie sind parteipolitisch und religiös unabhängig.
Welche Bereiche sehen Sie, insbesondere auf dem Land wie im Chiemgau, in denen die Gründung einer Genossenschaft Sinn machen könnte?
Genossenschaften kann man in der Groß- oder Kleinstadt und auch auf dem Land und auch im Chiemgau gründen. Das können Dorfläden, Handwerksbetriebe, Banken, Erzeuger/ Verbrauchergenossenschaften, Landwirtschaftsbetriebe, Hotel- und Gaststättenbetriebe, Ärzte- und Architektenbüros u.a., vor allem auch – wie es bei Ihnen diskutiert wird – Wohnungsbau- und Energiegenossenschaften sein.
Welche Genossenschaften gibt es schon im Chiemgau?
Es gibt seit 2010 den Dorfladen in Sachrang. Er ist ein Gemeinschaftsprojekt, gegründet als genossenschaftlich geführte Unternehmergesellschaft (UG) von BürgerInnen und FreundInnen des Dorfes. Er bietet nicht nur Einkaufsmöglichkeiten und eine Poststation, sondern ist auch Begegnungsstätte und trägt maßgeblich zum Miteinander bei. 2017 wurde in Aschau die Energiegenossenschaft Bürgerenergie Chiemgau eG (BEC) gegründet, die in der Zwischenzeit mehrere Projekte sehr erfolgreich umgesetzt hat und weiter mit Hochdruck arbeitet. In Prien am Chiemsee baut die MARO Genossenschaft für selbstbestimmtes und nachbarschaftliches Wohnen eG ein Wohnprojekt mit 17 Wohnungen. Maro ist auf den ländlichen Raum spezialisiert. Weiter weg gibt es in Traunstein bereits seit 1946 die Gemeinnützige Wohnungsbaugenossenschaft Haidforst eG. Sie hat gerade ein Wohnhaus mit sechzehn Wohnungen neu errichtet und plant dreißig neue Wohnungen. Insgesamt finden in der Traunsteiner Genossenschaft heute Mitglieder in 495 Wohnungen preiswerten Wohnraum, Gemeinschaft, Mitbestimmungsrechte und Sicherheit. Auch Dorfgasthäuser und Hotels wurden im umliegenden Raum – wie zum Beispiel in Altenau bei Oberammergau als Genossenschaft – zum Teil mit kulturellen Zentren übernommen.
Inwieweit kann eine Genossenschaft für Gemeindearbeit im ländlichen Raum eine Alternative zu derzeitigen Lösungen sein?
Ich denke, das ergibt sich aus dem bereits Gesagten. Als Wählerinitiative können Sie Menschen ermutigen, mit genossenschaftlichen Betrieben und Projekten zu zeigen, dass arbeiten und wirtschaften auch anders gehen kann, als in kapitalistisch organisierten Betrieben ? insbesondere in Bezug auf Bau- und Wohnungsgenossenschaften.
Wo können sich Bürger bzgl. der Gründung einer Genossenschaft informieren?
Es gibt eine Reihe von Genossenschafts- und Prüfungsverbänden die darüber informieren, dazu gehören u.a. die Innova e.G., der Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften e.V., Bundesverein zur Förderung des Genossenschaftsgedankens e.V. (zFdG), DGRV – Deutscher Genossenschafts- und Raiffeisenverband e.V. und Prüfungsverband der kleinen und mittelständischen Genossenschaften e.V.
Wie kann sich eine Einzelperson in eine Genossenschaft einbringen und welche Vorteile hat sie davon?
Eine Einzelperson kann sich in eine bestehende Genossenschaft einbringen, wenn dort GenossInnen gesucht werden. Sie kann aber auch mit anderen selbst eine Genossenschaft gründen. Eine große Rolle spielt die Mitbestimmung. Alle Mitglieder können Gegenwart und Zukunft der Genossenschaft aktiv mitgestalten – wenn sie Lust haben. Für Wohnungs- und Mietergenossenschaften gilt: Stabile Mieten, erschwingliche Preise, Serviceleistungen, keine Maklergebühren, keine Kündigung wg. Eigenbedarf, lebenslanges Wohnrecht, oft auch für die nachfolgende Generation, so sie GenossenschafterIn ist und vieles mehr.
Inwieweit spielt das (Nicht-)Vorhandensein von Kapital in Bezug auf die Mitgliedschaft eine Rolle?
Da verweise ich auf das Konzept der Flüchtlingsgenossenschaft. Andere können die Genossenschaftsanteile für die GenossInnenschaft einbringen. Die Genossenschaftsbanken bieten ebenfalls Unterstützung durch günstige Kredite, z.B. die Bank für Gemeinwirtschaft (BfG) oder Sparda-Bank eG.
Welchen Brocken muss man schlucken, wenn man u.a. sein Geld in die Genossenschaft investiert?
Erst mal muss man/frau begriffen haben, dass das Geld vergemeinschaftet ist, das heißt es gehört ihr/ihm weiterhin, aber nicht alleine, sondern als Kollektiv. Wenn er/sie die Genossenschaft verlassen möchte, kann sie/er ihren eingezahlten Anteil wieder mitnehmen.
Und was passiert mit meinen Einlagen, nach meinem Tod?
Bei Tod gilt: § 9 GenG: „Stirbt ein Mitglied, so geht die Mitgliedschaft bis zum Schluss des Geschäftsjahres, in dem der Erbfall eingetreten ist, auf die Erben über“.
Genossenschaften scheinen in vielen Bereichen eine bürgernahe Lösung zu sein – was wünschen Sie sich diesbezüglich für die Zukunft?
Dass Menschen in Stadt und Land die Vorteile von Genossenschaften einsehen. Dazu braucht es eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Kommunen und Gemeinden, Bürgerinitiativen, Gewerkschaften und kritischen Bewegungen.
Vielen Dank für das informative Gespräch, Frau Dr. Notz.
Zu Dr. Gisela Notz
Gisela Notz lebt und arbeitet in Berlin. Bis 2007 war sie Wissenschaftliche Referentin im Historischen Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn. Sie hatte Lehraufträge und Vertretungsprofessuren an verschiedenen Universitäten inne. Von 2004-2010 war sie Bundesvorsitzende von pro familia und von 2002-2014 im Stiftungsrat der Bewegungsstiftung. Sie ist weiterhin in sozialen Bewegungen, im Institut für Protest- und Bewegungsforschung und publizistisch tätig. Die Arbeitsschwerpunkte von Gisela Notz sind die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, alternative Ökonomie, Frauen-, Familien- sowie Sozialpolitik. Im Rahmen der Alternativen Ökonomie forscht sie schon seit langem auch zu Genossenschaften.
Notz, Gisela: Genossenschaften Geschichte, Aktualität und Renaissance Schmetterling -Verlag, ISBN 3-89657-069-2 erscheint im 2. Halbjahr 2020. http://www.schmetterling-verlag.de/page-5_isbn-3-89657-069-2.htm